Der Stanley-Hype, erklärt

Wie sich eine 100-jährige Marke mit modernem Marketing neu erfindet.

Das US-Unternehmen Stanley stellt seit 111 Jahren Thermosflaschen aus Edelstahl her.

Die langlebigen Produkte sind bei Bauarbeitern, Soldaten im 2. Weltkrieg und Outdoorfans beliebt: einer hauptsächlich männlichen Zielgruppe.

Bild: Stanley.

In den letzten 4 Jahren steigt der Umsatz jedoch plötzlich von 73 Millionen Dollar auf 750 Millionen. Und das hat Stanley einer ganz neuen Zielgruppe, einem kreativen Marketingchef und mormonischen Müttern aus Utah zu verdanken. 

Wie sich eine jahrhundertealte Marke mit modernem Marketing neu erfindet:

Ein Erfolgsprodukt, das eigentlich scheitert.

Im Zentrum des Erfolgs steht der "Quencher": eine wiederverwendbare Edelstahlflasche mit Henkel, die perfekt in die Auto-Getränkehalterung passt. In der beliebtesten Ausführung für 1,2 Liter, die heiße Getränke für 7 Stunden warm und kalte Drinks für 11 Stunden kalt hält.

Bild: Stanley.

Bei seiner Markteinführung 2016 enttäuscht der Quencher zunächst und verkauft sich kaum. 
2019 wird er fast gar nicht mehr ausgeliefert und soll allmählich aus dem Sortiment verschwinden.

Was das Stanley-Management zu diesem Zeitpunkt noch nicht weiß: der Quencher ist bei einer Zielgruppe enorm beliebt, der Stanley in der 111-jährigen Firmengeschichte bisher kaum Beachtung schenkt: Frauen.

Dass sich das ändert, ist 3 Bloggerinnen der Website "The Buy Guide" zu verdanken. 

Bei ihrer Community, hauptsächlich jungen Müttern aus Utah, wird der Quencher so stark nachgefragt, dass die 3 sogar ihre Geschäftskonten leeren und auf eigene Faust tausende Quencher zum Großhandelspreis einkaufen und an ihre Fans weiterverkaufen.  

Das Risiko zahlt sich sofort aus: jedes Mal sind sie nach wenigen Tagen restlos ausverkauft. Über Jahre versuchen die Bloggerinnen, bei Stanley mit diesen Erkenntnissen Gehör zu finden – vergeblich. Dort ist man skeptisch, dass die weibliche Zielgruppe ein lukratives Geschäftsfeld sein kann.

Das Crocs-Erfolgsrezept

2020 übernimmt Terence Reilly die Marketingleitung bei Stanley und begreift sofort, welche Riesenchance für das Unternehmen bereit liegt. Reilly hat bei der Schuhmarke Crocs den Imagewandel vom hässlichsten Schuh der Welt zum Fashion-Item verantwortet. 

Und mit genau diesem Crocs-Erfolgsrezept transformiert er Stanley in 5 Schritten:

Schritt 1: Neue Farben für die neue Zielgruppe

Für die weibliche Zielgruppe wird der Quencher mit einem Trinkhalm ausgestattet und in vielfältigen Farboptionen neu aufgelegt: statt dem traditionellen Grün gibt es jetzt instagram-taugliche Pastellfarben. 

Damit schafft der Quencher den Sprung von der Baustelle in den täglichen Gebrauch. Mit jeder neuen Farboption werden Kundinnen zu einer Sammelleidenschaft verleitet: für jedes Outfit gibt es jetzt einen Quencher in der passenden Farbe.

Bild: Stanley.

Schritt 2: Kollaborationen

Stanley produziert regelmäßig in Zusammenarbeit mit anderen Marken und Promis exklusive Sondereditionen und macht sich damit deren riesige Reichweite zunutze.

Im Juli 2023 gibt es die erste Promikollaboration: der pink-grüne "Watermelon Moonshine Quencher" mit der Countrysängerin Lainey Wilson ist nach 11 Minuten ausverkauft. 

Die Kollaborationen mit Starbucks oder dem US-Einzelhändler Target müssen aufgrund der hohen Nachfrage auf 2 Stück pro Kundin beschränkt werden.

Bild: Sängerin Lainey Wilson mit ihrem Watermelon Moonshine Quencher.

Schritt 3: Verknappung durch Limited Editions

Beim Verkauf bedient sich Terence Reilly bei den "Drops" aus der Sneakerkultur: neue Farben oder Kollaborationen werden nicht großflächig in die Läden gebracht, sondern zu einem gewissen Zeitpunkt in beschränkter Auflage verkauft.

Dadurch wird jede Neuveröffentlichung zum Event, die künstliche Verknappung führt zu einer wahren "Stanley-Mania": Am Verkaufstag wird vor den Läden campiert, es gibt sogar Tumulte und Schlägereien. Die Nachfrage ist so groß, dass sich ein Quencher am selben Tag auf eBay für mehrere hunderte Dollar weiterverkaufen lässt.

Der zusätzliche Vorteil dieser Strategie: mit beschränkten Auflagen wird verhindert, dass überschüssige Produkte nicht teuer ewig im Lager aufbewahrt werden müssen.

Schritt 4: Rechtfertigung für den hohen Preis

Nicht alle Interessentinnen bekommen ihren Stanley, dadurch wird die Trinkflasche zum Statussymbol.

Zusätzlich verleiht der Quencher das Image einer gesundheitsbewussten Frau, die Wert auf ihre Gesundheit legt: 50 Dollar für eine Wasserflasche ist viel Geld – doch 50 Dollar für ein Tool, das beim regelmäßigen Wassertrinken unterstützt und so zu einem gesünderen Lebensstil verhilft? Quasi geschenkt.

Bild: Stanley

Schritt 5: Modernes Social Media Management

Stanley präsentiert sich wie eine Marke aus dem Beauty-Sektor: Unboxing-Videos, user-generated Content und "Day-in-the-Life" Videos stellen die Produktvorteile und die Vielseitigkeit eines Quenchers in den Vordergrund.

Stanley lässt seine Kundinnen somit das Marketing für sie übernehmen.

Aufmerksamkeit erzeugt im November 2023 ein virales Video: eine Frau findet in ihrem ausgebrannten Auto einen unversehrten Stanley Quencher. Doch nicht nur die Trinkflasche ist unversehrt: beim Schütteln des Quenchers ist sogar das Geräusch der noch immer gefrorenen Eiswürfel zu hören. Eine Vorlage, die Marketingchef Terence Reilly sofort verwertet: Stanley wird ihr nicht nur ihren Quencher ersetzen, sondern ihr auch ein neues Auto schenken. 

Bild: Stanley-Quencher im ausgebrannten Auto.

Fazit: Terence Reilly hat einer über hundertjährigen Marke strategisch neues Leben eingehaucht, ohne dabei ihre Kernwerte zu verraten, und dabei in den letzten Jahren das Bestmögliche aus dem Unternehmen herausgeholt.

Ob Stanley in derselben Geschwindigkeit weiterwachsen kann, wird sich zeigen – denn Trends sind heutzutage immer kurzlebiger.

Bild: Umsätze von Stanley zwischen 2019 und 2023. Quelle: CNBC.